Buchgeschichten


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“IL PERFETTO VITRUVIO”: die letzte Ausgabe des Barbaro-Vitruvs (1641)

 

Abb. 1: Vitruv/Barbaro 1567, Titel

Abb. 2: Vitruv/Barbaro 1584, Titel

Abb. 3: Vitruv/Barbaro 1629, Titel

 

Die Vitruvausgaben sind doch alle bekannt, registriert, kollationiert …, glaubt man. Doch dann begegnet man einer scheinbar nirgends bemerkten Vitruvausgabe, deren Frontispiz den Titel “IL PERFETTO VITRUVIO” trägt. Das doch auffallen müsste! Bei Poleni wird diese Ausgabe jedenfalls nicht zitiert, und an ihm hat sich die ganze nachfolgende Vitruvforschung bekanntlich stets orientiert.

Schnell wird klar, worum es sich hier handelt. Die kleine Barbaro-Vitruvausgabe von 1629 ist 1641 noch einmal anderweitig gedruckt worden. Das schöne, auffällige Frontispiz mit dem Aufdruck “IL PERFETTO VITRUVIO” findet sich bereits in der früheren Ausgabe, allerdings nicht als Haupttitel, sondern unmittelbar vor dem Beginn des Texts, auf der Rückseite des Vorworts “Al Lettore” von Alessandro de’Vecchi, dem Herausgeber dieser Ausgabe. Völlig unbekannt ist diese letzte ‘Barbaro’-Ausgabe von 1641 übrigens nicht: “Quinta vice prodiit Italica Barbari translatio Venetiis anno MDCXLI per Turrinos eadem forma.”[1] Luigi Marini hat diesem letzten Druck des Barbaro-Kommentars in seiner monumentalen, luxuriösen und wenig benutzten römischen Vitruvausgabe immerhin zwei Zeilen gewidmet. Viel mehr gab es ja auch nicht zu sagen. Es handelt sich kurz gesagt um einen Neudruck der Ausgabe von 1629, wobei wie immer Änderungen vor allem in der Titelei, in Widmungen und Vorworten zu suchen sind.

Mithin sind es insgesamt fünf italienische und eine lateinische Ausgabe des ‘Barbaro’, deren Besonderheiten im Folgenden aufgelistet werden sollen. Nur die erste italienische Originalausgabe von 1556 (mit Holzschnitten nach den Zeichnungen Palladios in originaler Grösse) wurde im Folio-Format produziert, die lateinische Ausgabe von 1567 folgt im kleinen Folio-Format, alle anderen Ausgaben sind konform im 4°-Format erschienen.

 

1556: italienische Erstausgabe; Venezia: Marcolini.

Titel: Allegorie (Architektur und Wissenschaften).

Widmung an Ippolito d’Este; Rückseite: Allegorie (zu Gnomonik, Mechanik u.a.).

Vita di Vitruvio.

Proemio Daniele Barbaros.

 

1567: lateinische Ausgabe; Venezia: Francesco de’ Franceschi/Ioan. Crugher.

Titel mit Titelvignette ‘Pax’; Rückseite: Allegorie wie 1556, verkleinert.

Widmung Daniele Barbaros an Kardinal Granvellano.

Index der Bücher/Kapitel.

Index Verborum (und Errata).

Verkürztes Proemio Barbaros.

 

1567: italienisch; Venezia: Francesco de’ Franceschi / Giovanni Chrieger. (Abb. 1)

Titel/Allegorie wie 1556.

Zweite Version der Widmung Daniele Barbaros an Ippolito d’Este mit der Heraushebung der zuvor noch nicht beachteten architektonischen Unternehmungen in Rom und Tivoli: “[…] delle quali opere io ne haveva vedute alcune prima, che io le dedicasse il Vitruvio, alcune ho veduto dapoi, & sono quelle, che con tanta splendidezza ella ha fatto in Roma, & a Tioli […]”.

Francesco de’ Franceschi “A I Lettori” (mit Bezug auf beide Ausgaben von 1567, die lateinische und die italienische).

Sodann dem Text vorangesetzt und integriert wie 1556: kleines Vorwort, ‘Vita di Vitruvio’ und nachfolgend das ausführliche Proemio Daniele Barbaros.

 

1584: italienisch; Venezia: Francesco de’ Franceschi. (Abb. 2)

Titel; allegorischer Rahmen nach dem von Francesco de’ Franceschi für die italienische Übersetzung von Albertis “De Re Aedificatoria” durch Cosimo Bartoli und für weitere Texte Bartolis verwendeten Muster der ornamentalen Titelfassung.

Widmung Barbaros an Ippolito d’Este in der zweiten Version von 1567.

Francesco de’ Franceschi “A I Lettori”, Vita Vitruvio, Proemio, alles identisch wie 1567.

 

1629: italienisch; Venezia: Alessandro de’Vecchi. (Abb. 3)

Titel mit Liste der Titel der zehn Bücher und Erwähnung der Widmung an Sforza Ponzone.

Widmung an Monsignor Sforza Ponzone Arcivescovo di Spalatro, signiert Alessandro de’Vecchi, 10. März 1629. (“[…] m’è parso farne abbondevol copia co’l trarle di nuovo fuori delle Stampe, apportandole à gli occhi dell’Universo con quella più diligente cura, e più sollecita diligenza che mai altre fiate, & in altro tempo non hanno.”) (Abb. 11)

Vorwort: “Alessandro de’Vecchi A’ Lettori”, aber identisch mit Francesco de’ Franceschi 1567; Rückseite: Frontispiz nach Modell ‘Alberti/Bartoli’ und eingesetztem Titel: “IL PERFETTO VITRUVIO Con li Commenti del Barbaro. / Si vende in Venetia, alla Libraria della Gatta.” (Abb. 4)

 

1641: italienisch; Per li Turrini.

Titel/Frontispiz nach Modell ‘Alberti/Bartoli’: “IL PERFETTO VETRUVIO. Con li Commenti del Barbaro. / Si vende in Venetia alla Libraria della Torre.” (“VETRUVIO” nicht wie 1629 “VITRUVIO”!)

(Zweiter) Titel mit Liste der Titel der zehn Bücher (wie 1629); aber ohne Widmung an Ponzone, stattdessen: “Con Licenza de’ Superiori”.

Widmung an Donato Peri signiert “cordialissimo, & obligatissimo Servitore Gio. Maria Turrini.” (“E questa è à punto la causa, perche l’Architettura di Vitruvio col comento del Barbaro esce quasi rinovata Fenice dalle mie Stampe dedicata à V.S.”) (Abb. 12)

“Lo Stampatore A’ Lettori”, identisch mit Vorwort Francesco de’ Franceschi von 1567, 1584, 1629.

 

Es finden sich somit in den sechs Barbaro-Vitruvausgaben verschiedene WIDMUNGEN:

Von Daniele Barbaro an Ippolito d’Este 1556, in zweiter Version (mit Lob der Bauten des Kardinals in Rom und in Tivoli) 1567 ital. und 1584.

Von Daniele Barbaro an Kardinal Granvellano 1567 lat.

Von Alessandro de’Vecchi an Sforza Ponzone 1629.

Von G. B. Turrini an Donato Peri 1641.

 

VORWORTE “A l Lettori” / “A’ Lettori” (Abb. 7, 8,  9, 10)

Francesco de’ Franceschi 1567 und 1584; danach kopiert in:

Alessandro de’Vecchi 1629,

“Lo Stampatore” [Turrini] 1641.

 

ALLEGORISCHES FRONTISPIZ:

Architektur/Wissenschaften: 1556, 1567 lat., 1567 ital.

nach Modell Alberti/Cosimo Bartoli von 1565 (Abb. 13): in 1584 (Abb. 2); zusätzlich mit Titel “IL PERFETTO VITRUVIO” 1629 (Abb. 4) und “IL PERFETTO VETRUVIO” 1641 (Abb. 5).

 

Abb. 4: Vitruv/Barbaro 1629, Il Perfetto Vitruvio und Il Primo Libro

Abb. 5: Vitruv/Barbaro 1641, Il Perfetto Vetruvio

Abb. 6: Vitruv/Barbaro 1641, Libri Dieci, Inhalt

 

Giovanni Poleni kommentierte die letzte Ausgabe von Francesco de’ Franceschi 1584: “fideliter ex Editione Italica anni 1567”.[2] Kleinere Abweichungen und ‘Brüche’ folgen erst danach. Giovanni Poleni kommentiert diesbezüglich die Ausgabe von 1629. Er hält zuerst die Übernahme der von Francesco de’ Franceschi besorgten Illustrationen fest,[3] bemerkt dann aber die Abweichungen: “sed tamen non omnes”.[4] Man habe ‘grundlos’ (“nihil faciens ad rem”) die Perser-Karyatiden (S. 17) durch das Schema einer Ädikula (“aedicula cujusdam figura est”) ersetzt (Abb. 14, 16, 17); und so sei man auch noch anderswo (“ita porro alibi etiam”) verfahren.[5] Offensichtlich ging da etwas verloren, und Alessandro de’Vecchi füllte die Lücke, die durch die fehlenden Perser-Karyatiden entstanden war, mit einem Holzschnitt aus der Alberti-Ausgabe von 1565, deren geschmückter Titel der Verleger auch für weitere Titel Cosimo Bartolis verwendete.[6] (Abb. 13) Schwerwiegender ist ein solcher – beliebiger – Bildersatz zweifelsohne da, wo die Hauptfigur zu den “species dispositionis” Vitruvs, mit der kombinierten Ansicht von Orthographie und Schnitt, zweimal (S. 32 und wiederum S. 124 [Abb. 18, 19]) durch den Schnitt der “Curia dei sacerdoti” (Abb. 15) aus Cosimo Bartolis Alberti-Ausgabe ebenfalls völlig unvermittelt ersetzt wird.[7] Diese Figur aus Bartolis Alberti erscheint 1629 auch noch anstelle des Aufrisses des “Amphiprostilos” und anstelle des Aufrisses/Schnitts des toskanischen Tempels.[8] Es sind rein ‘verlegerische’ Massnahmen, die an wichtigen Stellen Sinn und Zusammenhang von Bild und Text zerstören.

Poleni kritisiert ein solches unvorsichtiges Vorgehen (“imprudenter hac in Editione actum sit”) auch bezüglich der Übernahme des Vorworts “Ai Lettori” von Francesco de’ Franceschi durch Alessandro de Vecchi[9]; es würde der Eindruck entstehen, er selbst sei mit Barbaro in Kontakt gestanden, der doch seit 59 Jahren tot sei. Dieses Vorwort findet sich in der Ausgabe von 1641 noch ein weiteres Mal, diesmal mit der anonymisierten Verfasserangabe “Lo Stampatore” versehen.

Insgesamt wirft dies ein Licht auf die Usanzen von Verlegern, die sich mit grösserer zeitlicher oder örtlicher Distanz gerne immer mehr Freiheiten gestatten, um sich – ohne Rücksicht auf mögliche inhaltliche Fehler und Irrtümer – einen Verkaufsvorteil zu verschaffen. Man fühlt sich an das krasse Beispiel jenes aus Venedig stammenden, in Lyon freiere Bedingungen vorfindenden Herausgebers von Fra Giocondos Vitruvausgabe im Taschenbuchformat erinnert, der 1523 auch noch von den Illustrationen des eben erschienenen Vitruvs von Cesariano (1521) profitieren wollte. So kamen die sehr unterschiedlichen Darstellungen der “species dispositionis” Vitruvs plötzlich unvermittelt nebeneiner zu stehen, jene gemäss Fra Giocondo und jene nach Cesariano, ohne jegliche Erläuterung und deshalb wohl sehr irritierend; es hat den Verleger auch nicht gekümmert, dass die raffinierten, teils grossformatigen Abbildungen Cesarianos in ihrer starken Verkleinerung für das Lyoner ‘Taschenbuch’ von 1523 kaum lesbar sind.[10] Es galt – schon damals – ‘Hauptsache, viele Bilder’!

Dass man mit Abbildungen ‘Staat machen’ wollte, zeigt auch das Schicksal von Palladios “Quattro Libri”, dessen originale Druckstöcke nach einigen späten Ausgaben an Fréart de Chambray verkauft wurden; dieser rühmte sich dann 1650, bisher noch unpublizierte Holzschnitte erstmals zu veröffentlichen: “Voici les deux planches que j’ay promises sur la fin du second livre, où i’en ay desia adiousté une, ainsi que ie fait presentement celles-cy, les redonnant toutes trois à leur propre autheur, qui les avoit à mon avis égarées parmy l’embaras d’une impression difficile […].” Es überwog längst der Ruhm Palladios; dass es sich bei diesen zusätzlichen Abbildungen um beschädigte Holzblöcke, um ‘Ausschuss’, handelte, kümmerte den Franzosen nicht.[11] “Habent fata libelli!”

Bei diesem neuerlichen Hinweis auf die späte, letzte Ausgabe des Barbaro-Vitruv von 1641, die Polenis Aufmerksamkeit entgangen war, wird niemand von einer bedeutenden Neuentdeckung sprechen wollen. Von Interesse ist jedoch allemal, wie sehr Verleger das Schicksal von Büchern mitbestimmen und dabei öfters Irritationen geschaffen haben. Von einem “PERFETTO VITRUVIO” kann angesichts der Mängel bei den Ausgaben von 1629 und 1641, bei der dieser Titel nun tatsächlich auf der ersten Seite erscheint, keine Rede sein.[12] (Abb. 56) Reine Verkaufswerbung!

 

Abb. 7: Vitruv/Barbaro 1567, F. de’ Franceschi, A I LETTORI

Abb. 8: Vitruv/Barbaro 1584, F. de’ Franceschi, A I LETTORI

Abb. 9: Vitruv/Barbaro 1629, [F. de’ Franceschi], A’ LETTORI mit A. De’ Vecchi übertitelt

Abb. 10: Vitruv/Barbaro 1641, [F. de’ Franceschi], A’ LETTORI mit Lo Stampatore übertitelt

 

Abb. 11: Vitruv/Barbaro 1629, Widmung an S. Ponzone

Abb. 12: Vitruv/Barbaro 1641, Widmung an D. Peri

 

Abb. 13: Alberti 1565, Titel

Abb. 14: Alberti 1565, S. 317, Aedikula

Abb. 15: Alberti 1565, S. 314, Kuria

 

Abb. 16: Vitruv/Barbaro 1567, S. 16–17

Abb. 17: Vitruv/Barbaro 1641, S. 16–17

Bild auf S. 17 (Abb. 17) aus Alberti (1565, cf. Abb. 14 ) ersetzt jenes aus Barbaro/Vitruv (1567, cf. Abb. 16)

 

Abb. 18: Vitruv/Barbaro 1567, S. 124–125

Abb. 19: Vitruv/Barbaro 1641, S. 124–125

Die richtige Abfolge und Ordnung der Bilder (Abb. 18) und die irrige Veränderung (Abb. 19): Ergänzung der originalen Abbildung aus Vitruv/Barbaro (1567) durch die unpassenden Illustrationen aus Alberti (1565), cf. Abb. 15

 

 

Indes ist hier darauf hinzuweisen, dass derlei verlegerische ‘Zutaten’ nicht zu unterschätzen sind. Zwar streichen sie in erster Linie die Vorteile neuer Ausgaben heraus, berühren aber doch oft auch dieses oder jenes Argument, das nicht nur lokale Gegebenheiten betrifft, sondern die Sache selbst, wie etwa das in Vitruvs Ausführungen zweifellos bedeutende Verhältnis von Theorie und Praxis. Dies ist der Fall in Francesco de’ Franceschis erstmals 1567 gedrucktem Vorwort “A I Lettori / A’ Lettori”, das 1584, 1629 und auch noch 1641 wiederholt wird (Abb. 7, 8,  9, 10): Nach Barbaros ausführlichem Proemio, das den Zusammenhang grundsätzlicher architektonischer Fragen mit Aristoteles’ Darstellung zur Wissensbildung gemäss den ersten Seiten der Metaphysik in eindringlicher Weise zusammenbringt und so die Architektur als eine aus der Erfahrung geborene “Ars” definiert, mögen dies nur kleinere Kommentare oder Ergänzungen sein. Allein, die Kritik an der Zeichnung des Architekten ‘ohne Mathematik’, die Francesco de’ Franceschi als kritische Erläuterung zum Verhältnis von Theorie und Praxis mitsamt einer mehr als deutlichen Schlussfolgerung hinzufügt, ist bemerkenswert: “insegnando a tirare le linee semplicemente, senza le dimostrationi Matematiche, pensano, che quella sia la Theorica, & a questo modo non hanno nè Theorica, nè Pratica; perche la Theorica si riferisce alla Pratica, & la Pratica dipende dalla Theorica; & in somma chi non ha le Matematiche, non ha la Theorica.”

WOe, 18.05.2025

 

Anmerkungen

* Redigierte Version, in: Scholion 17/2025 (in Redaktion, nach Druck online E-Periodica)

[1] Cf. Luigi Marini, Vitruvii De Architectura Libri decem, Apparatu, Emendationibus et Ilustrationibus […], Roma: Luigi Marini, 1836, Vol. I, S. LVIII.

[2] Cf. Giovanni Poleni, Exercitationes Vitruvianae Primae. Hoc est: Ioannis Poleni Commentarius Criticus de M. Vitruvii Pollionis Architecti X. Librorum Editionibus, necon de eorundem Editoribus, Padova: Typis Seminarii/Manfré, 1739, S. 95.

[3] Id., S. 103: “Figurae vero iisdem formis, quibus in illia impressae fuere […] a Francisci heredibus Typographum illum de Vecchi eas acquisivisse credibile est.”

[4] Id., S. 103–104.

[5] Mit Verweis auf S. 32, 114, 119. – Polenis Angabe zu S. 114 ist irrig, stattdessen S. 124 und auch noch S. 196.

[6] Cf. [Leonbattista Alberti], L’Architettura di Leonbatista Alberti Tradotta in Lingua Fiorentina da Cosimo Bartoli, Venezia: Francesco de’ Franceschi, 1565, S. 317. – Derselbe ornamentale Rahmen des Titels wird von Francesco de’ Franceschi auch für andere Werke Cosimo Bartolis verwendet, so für: Cosimo Bartoli, Del Modo di Misurare, Venezia: Francesco de’ Franceschi, 1564; id., Discorsi Historici, Venezia: Francesco de’ Franceschi, 1569.

[7] Alberti 1565, L’Architettura, op. cit. (Anm. 6), S. 314.

[8] Cf. Vitruv/Barbaro 1629, S. 119 und 196.

[9] Cf. Poleni 1739, Exercitationes, op. cit. (Anm. 2), S. 104: “Alexandrum de Vecchi Typographum praeposuisse nomen suum Proemio illi, quod Franciscus Franciscius Editioni Anni 1567. praeposuerat.”

[10] Cf. M. Vitruvii de architectura libri decem, summa diligentia recogniti, atque excusi. Cum nonnullis figuris sub hoc signo * positis. Nunquam antea impraessis […], Lyon: [Lucimborgo Gabiano], 1523; cf. Werner Oechslin, Audacia. Cesare Cesarianos Wagemut, Basel: Colmena Verlag, 2022, S. 112–114.

[11] Cf. [Andrea Palladio], Les Quatre Livres de L’Architecture d’André Palladio. Mis en François, Paris: Edme Martin, 1650, S. 328.

[12] Unser Exemplar weist auf dem Titel den Stempel “Cabinet de Mr. le Cte Wlgrin Taillefer” auf und enthält auf der Vorderseite den späteren Besitzvermerk: “Y.M.Froidevaux – Architecte – 1942.”

 

Abbildungen

Abb. 1: Vitruv/Barbaro 1567, Titel

Abb. 2: Vitruv/Barbaro 1584, Titel

Abb. 3: Vitruv/Barbaro 1629, Titel

 

Abb. 4: Vitruv/Barbaro 1629, Il Perfetto Vitruvio und Il Primo Libro

 

Abb. 5: Vitruv/Barbaro 1641, Il Perfetto Vetruvio

Abb. 6: Vitruv/Barbaro 1641, Libri Dieci, Inhalt

 

Abb. 7: Vitruv/Barbaro 1567, F. de’ Franceschi, A I LETTORI

Abb. 8: Vitruv/Barbaro 1584, F. de’ Franceschi, A I LETTORI

Abb. 9: Vitruv/Barbaro 1629, [F. de’ Franceschi], A’ LETTORI mit A. De’ Vecchi übertitelt

Abb. 10: Vitruv/Barbaro 1641, [F. de’ Franceschi], A’ LETTORI mit Lo Stampatore übertitelt

 

Abb. 11: Vitruv/Barbaro 1629, Widmung an S. Ponzone

Abb. 12: Vitruv/Barbaro 1641, Widmung an D. Peri

 

Abb. 13: Alberti 1565, Titel

Abb. 14: Alberti 1565, S. 317, Aedikula

Abb. 15: Alberti 1565, S. 314, Kuria

 

Abb. 16: Vitruv/Barbaro 1567, S. 16–17

Abb. 17: Vitruv/Barbaro 1641, S. 16–17

 

Abb. 18: Vitruv/Barbaro 1567, S. 124–125

Abb. 19: Vitruv/Barbaro 1641, S. 124–125

 

13.08.2025


GLÜCK: “Philippi Beroaldi de felicitate opusculum” (1495)*

Abb. 1: Beroaldo 1495, Vortitel

 

Glück gehört wie Wahrheit oder Schönheit zu jenen grossen Vorstellungen und Begriffen, die zwar nicht endenden, variierenden Deutungen ausgeliefert sind, in ihrer universalen Bedeutung aber gleichwohl unangetastet bleiben. Doch was ist nun Glück? Nicht nur ein momentanes Glücksgefühl, das mit “Fortuna”, der im Wind stehenden Göttin, kommt und geht, sondern GLÜCK? Alle Lexika weichen einer eindeutigen Klärung aus; es ist zu vieldeutig und reicht in alle Lebensbereiche hinein, so scheint es. Dass, wie vielfach behauptet, alles nur in unserer Wahrnehmung angelegt, von uns selbst allein bestimmt sei, erfüllt unsere – hohen – Erwartungen nicht. Also sehnen wir uns nach einer ‘philosophischen’ Grundlegung und Erklärung, um das ganze Gewicht einer Glücksempfindung angemessen und ‘richtig’ einschätzen zu können.

So viel ist sicher, das Glück begleitet uns in allen Lagen, auch in solchen von extremer Not und Ungewissheit – wenn wir es denn fassen wollen und können, soweit es in unserer Macht steht. Das Glück gestalten wir selbst, sagt uns auch der moderne Neurowissenschaftler.

 

Mit dieser Aussicht, “Felice me”, beginnt der Maler und Kunstschriftsteller Gio. Paolo Lomazzo eines seiner “grotteschi” genannten, kuriosen Sonette und “capricci”, die die Verschiedenheit der Welt mitsamt der darin verborgenen Moral offenbaren sollen. Da ist alles dargestellt, was dem Glück zuwiderlaufen könnte; also fasst man es, um dagegen anzugehen und trotz aller Widerwärtigkeiten zu einer erhabenen, alles überragenden Glücksvorstellung zu gelangen:

FELICE me, che mai sù la Marina

            Carta non vidi il desiato varco.

            Che fra duoi poggi di salute varco,

            Havrei andando à sol a pioggia a bina.

Ivi trovato havrei quel che camina

            Per ogni monte, selva, e per ogni arco.

            Dove esser di valor non si vuol parco.

            Per non precipitar giuso à rovina.

Chi con cotali carte per lo mondo

            Pensa di gir senza fortuna ò duoli,

            Erra che sempre al fianco s’hà la morte.

Pur è tanto i piacer che l’huom giocondo,

            Vi si mette, se ben spesso figliuoli

            Vi vengon dietro di malvagia sorte.[1]

 

Nein, das Glück soll uns in jeder Lebenslage und in grösster Gefahr beistehen und uns begleiten.

          

Der Bologneser Humanist und einflussreiche Professor für Rhetorik und Poesie Philippo Beroaldo publizierte 1495 ein Büchlein mit dem Titel “De Felicitate”, widmete es dem über seine Mutter mit Kaiser Friedrich III. verwandten und dem Nachfolger Maximilian nahestehenden Markgraf Christoph I. von Baden und liess es in 1000 Exemplaren drucken.[2] (Abb. 1 [ Beroaldo 1495, Vortitel], 2 [Beroaldo 1495, erste Seite], 3 [Beroaldo 1495, letzte Seite]) Ein kleines Werk sei es und trotzdem der “rerum varietas” angemessen und ausreichend. Vergil und Columella sind seine Hauptquellen, daneben scheint der ganze Horizont erfahrener Gewährsleute der Geisteswelt auf. Als “magna res” führt Beroaldo das Glück ein, nach dem alle streben. Niemand würde nicht glücklich sein wollen. Niemand würde darin nicht das höchste aller Güter, das “summum bonorum”, erkennen. Es folgen Definitionen von Augustinus (“omnium rerum optandarum plenitudo”), Boethius und auch Aristoteles, der das Glück als eigentliches Ziel allen Strebens ausgibt.

Wo Glück ist, sind das Glücksempfinden und daran gekoppelt die Lust, die “voluptas”, nicht weit entfernt; und ‘schmerzfrei’ ist es ohnehin. Man verbindet es mit “otium”, der Musse, und häufig auch mit der “vita rusticana”, dem Leben auf dem Land im Gegensatz zur lärmigen Urbanität.[3] Dreierlei Formen und Gründe führt Beroaldo für das Auftreten von Glück an: das innere, an die Tugenden gebundene Glück, das äussere, das körperlicher Ertüchtigung und Schönheit zugeordnet ist, und schliesslich das mit äusseren Dingen wie Ehre und Reichtum verbundene Glück. Ein Geschenk der Götter ist Glück jedenfalls. Er gibt eine reiche Folge an Beispielen, auch um zu belegen, dass “voluptas” mit dem höchsten Glück verknüpft sei.

Abb. 2: Beroaldo 1495, erste Seite

Abb. 3: Beroaldo 1495, letzte Seite 

 

Allerdings existieren auch rein ‘geistige’, intellektuelle Formen der Glücksempfindung. Laut Lucanus habe der Astrologe und Mathematiker Eudoxos im Reich der rationalen und irrationalen universalen Vorstellungen die Feststellung und Präzisierung konkreter möglicher Sachverhalte mit dem Streben nach Glück verbunden und somit die Ursache des Glücksempfindens in dem erkannten Gegenstand, ‘in den Dingen selbst’, ausgemacht: “Sed quia res vere ita se haberet.” Man fühlt sich an spätere Beschreibungen von Glücksempfindungen in mathematischen Belangen erinnert, die jemand wie Joseph Scaliger – übrigens ebenfalls mit Verweis auf Eudoxos und die wundersamen pythagoräischen Entdeckungen – erwähnt: “Mirari tamen satis non possumus.” Die Einsicht in mathematische Gesetzmässigkeiten verschafft Glück, man spricht ja auch von der ‘Schönheit’ einer mathematischen Formel. Es findet alles in geistigen Sphären statt. Pythagoras sei Dank! “Pythagoras Mathematicen a sensibus & materia ad intellectum traduxit.” So gibt es eben Glücksempfindung nicht nur im Bereich der Sinneswahrnehmung, sondern auch im Intellekt![4] Man muss hier ansetzen, um den nie abbrechenden Eifer und im Gleichzug die damit verbundene Lust beim Lösen unlösbarer Probleme wie der Quadratur des Kreises zu verstehen.

Abb. 4: Bologna, Basilica San Martino di Maggiore, Beroaldos Epitaph

 

Abb. 5: Bologna, Basilica San Martino di Maggiore, am Eingang

 

Über Epikur folgt Beroaldo den Darstellungen, wie man zum Glück gelangen kann, quer durch die Geschichte. Es entsteht eine Weltgeschichte, die nicht nur vom unterschiedlichen ‘Geschick’, dem “fatum”, sondern genauso vom unterschiedlichen Glück geprägt ist. Gleichwohl ist auch gemäss Beroaldo die “voluptas” noch lange nicht das “summum bonum”, das man auf direktem Wege anstreben kann oder soll; noch weniger empfiehlt sich dies bei der “gloria”. Mehr Chancen bietet dagegen die “vita rustica”, das ländliche Leben in Naturverbundenheit. Mit Horaz lässt sich sagen: “Beatus ille qui procul negociis / Ut prisca gens mortalium.” Die glücklichen Anfänge der Menschheit liegen hier, in der Natur, in der sie ihren Ursprung hat. Von den Früchten der Erde nahmen die Alten sogar ihre Namen, wie die “Fabii” und “Lentuli”, wie Beroaldo hinterherschickt anmerkt.

Mit Reichtümern ist dagegen kaum viel Staat zu machen, trotz der Empfehlung: “O cives cives quaerenda pecunia primum. Virtus post nummos.” Die “virtus”, die “ars bene vivendi”, trägt den Siega davon. Tugend ist Gold. “Voluptas” verträgt sich schwerlich mit dem “summum bonum”, unbestritten ist dagegen: “contemplatio est felicitas”, wozu in alter humanistischer Überzeugung der Körper gesund sein muss. Beroaldo erinnert sich an das “Agathotychen”. Es muss alles zusammengehen, das Gute und das Handeln. Die berührende Geschichte von Kleobis und Biton darf nicht fehlen, die mit ihrer bewunderten Körperkraft ihre Mutter zum Heratempel in Argos hinauftrugen und sich dort ausruhten, worauf die Mutter von den Göttern das Beste für ihre Söhne erbat und diese nicht mehr aufwachten und entschliefen (Abb. 4 [Beroaldos Epitaph], 5 [Bologna, Basilica, am Eingang]). Eine Parabel zum höchsten, mit dem Geschick verbundenen Glück! “Nemo beatus ante obitum” wird Solon in den Mund gelegt. Und so zeigt sich am Ende, dass das scheinbar überall erreichbare Glück doch nicht so frei verfügbar ist, nicht an jeder Strassenecke feilgeboten wird. Es ist ein hohes, ein höchstes Gut. Der Humanist Beroaldo stellt es mit dem gebührenden moralischen Unterton vor und dokumentiert es umfassend.

WOe, 18.05.2025

 
Anmerkungen

* Redigierte Version, in: Scholion 17/2025 (in Redaktion, nach Druck online E-Periodica)

[1] Cf. Gio. Paolo Lomazzo, Rime divise in sette libri, Milano: Paolo Gottardo Pontio, 1587, S. 175.

[2] Cf. Philippus Beroaldus, De felicitate opusculum, Bologna: Platonis de Benedictis, 1495.

[3] Cf. Werner Oechslin, Urbanitas, in: Scholion 12/13, 2021, S. 206–234.

[4] Cf. Ioseph Scaliger, Mesolabilium, Leiden: Plantiin/Raphelengius, 1594, S. 9.

 
Abbildungen

Abb. 1: Beroaldo 1495, Vortitel

Abb. 2: Beroaldo 1495, erste Seite

Abb. 3: Beroaldo 1495, letzte Seite

Abb. 4: Bologna, Basilica San Martino di Maggiore, Beroaldos Epitaph

Abb. 5: Bologna, Basilica San Martino di Maggiore, am Eingang

18.05.2025


Das «NON-FINITO» der Gedanken*

«La Science est une, et vous l’avez partagée!!!»

[Étienne] Geoffroy Saint-Hilaire, Notions Synthétiques, Historiques et Physiologiques de Philosophie Naturelle, Paris: Dénain, 1838, Motto auf dem Titel

Ein Vorwurf! Ein Programm? Eine Forderung?

Der universale Blick aufs Ganze oder eine streng eingezirkelte Wissenschaft? Eine alte – und unverändert aktuelle Frage. Sie kulminierte 1830 unter den befreundeten Zoologen Georges Cuvier und Étienne Geoffroy Saint-Hilaire in einer denkwürdigen Debatte, die auch Goethe beobachtete und kommentierte.

I

«La Science est une, et vous l’avez partagée !!!» Es steht als Motto auf dem Titelblatt des späten Werkes von Étienne Geoffroy Saint-Hilaire, «Notions Synthétiques, Historiques et Physiologiques de Philosophie Naturelle» (1838) (Abb. 1: Étienne Geoffroy Saint-Hilaire 1838, Notions, Titel).[1] Geoffroy Saint-Hilaire geht es um das Ganze, um eine Summe und Synthese. Diese grundsätzliche Frage wissenschaftlicher Zwecksetzung und Orientierung verfolgt ihn sein ganzes Leben. Er geriet darob in Konflikt mit seinem lebenslangen Freund Georges Cuvier, den er ja früh nach Paris geholt hatte und für den er, den «homme de génie», dessen Tod einen unmessbaren Verlust, «une perte immense et irréparable» bedeutete, am 26. Mai 1832 die Abschiedsrede hielt.[2] Diese Freundschaft war auf die Probe gestellt, als die beiden in der Académie des Sciences zu Beginn des Jahres 1830 ihre Positionen in öffentlichen Debatten zur Diskussion stellten. Der Konflikt ging bald verkürzt unter dem Begriffspaar «analyse» versus «synthèse» in die Annalen ein. Während sich Cuvier streng an die durch ihre Funktionen bestimmte Einheit von Gattungen und insofern klar eingegrenzte Bereiche hielt, «d’ou elle s’est répandue selon les moyens que sa conformation lui donnoit»[3] (Abb. 2: Cuvier [1798] Tableau Élémentaire), führte Geoffroy Saint-Hilaire seine Betrachtung analoger Organismen über solche Beschränkungen hinaus. Als diese Differenz in einer öffentlichen Debatte an der Académie des Sciences in Paris 1830 diskutiert wurde, mochte Cuviers wissenschaftliche Autorität als Präsident der Akademie überwiegen[4], während sich Geoffroy Saint-Hilaire mit seiner weiterreichenden, jedoch als unbestimmt und vage aufgenommenen Position benachteiligt fand. Er griff Cuvier in einem seiner ureigensten speziellen Fragen an, was dieser nicht hinnehmen konnte. Da war etwas zerbrochen – zu spät, um bereinigt oder weiter vertieft zu werden.

Abb. 1: [Étienne] Geoffroy Saint-Hilaire, Notions Synthétiques, Historiques et Physiologiques de Philosophie Naturelle, Paris: Dénain, 1838, Titel

 

Abb. 2: G. Cuvier, Tableau Élémentaire de l’Histoire Naturelle des Animaux, Paris: Baudoin, An 6 [1798], Titel

 

Früh waren beide gemeinsam ihren zoologischen Forschungen nachgegangen. Allein, was sich später als ‘strenge Wissenschaft’ durchzusetzen schien, hatte Geoffroy Saint-Hilaire schon im ersten Band seiner «Philosophie anatomique» 1818 (Abb. 3: Étienne Geoffroy Saint-Hilaire 1818, Philosophie anatomique, Titel) wegen der Beschränkung auf das blosse Beschreiben und Klassifizieren («que de décrire et de classer») abgelehnt und stattdessen die unendliche Variationsfähigkeit und Veränderung in der Natur betont.[5] Mit Cuviers strenger wissenschaftlicher Disziplin sollte indes eine «nouvelle époque» eingeleitet werden; Geoffroy Saint-Hilaire hielt dagegen, kritisierte deren Einschränkung («on ne s’occupe que de travaux d’observations») und konterte mit seiner eigenen, auf einem anderen neuen Prinzip, «celui des connexions», beruhenden ‘neuen Epoche’.[6]

Abb. 3: [Étienne] Geoffroy Saint-Hilaire, Philosophie Anatomique. Des Organes respiratoires sous le rapport de la détermination et de l’idendité de leurs pièces osseuses, Paris: Méquignon-Marvis, 1818, Titel

 

Diese erweiterte Sicht hatte viele, so auch den schottischen Zoologen Robert Edmund Grant überzeugt, bei dem Charles Darwin nach 1825 in Edinburgh in die Schule ging. Später galt Geoffroy Saint-Hilaire – zusammen mit Jean-Baptiste Lamarck, dem zeitweiligen Kollegen am Muséum national d’histoire naturelle – als einer der Vorläufer der Evolutionstheorie. Natürlich gab es Fragen und Zweifel, bei ihm selbst; er schrieb 1818: «qui ne voit ou conduisent ces conséquences? On a observé par soi-même: on a cru remarquer que les analogies admises sur un sentiment vague, n’avaient pas un caractère assez déterminé d’évidence.»[7] Doch das Weiterdenken ist keine Stärke der strengen Wissenschaft! Geoffroy Saint-Hilaire hielt dagegen; kein Wunder, der Kampf bestimmte sein ganzes Leben.

1818, im Erstling seiner «Philosophie Anatomique», die er ja nur zögerlich veröffentlichte («j’éprouve d’anxiété»[8]), hatte er jedoch die Richtung klar vorgegeben. Es sei seine Absicht «uniquement de donner à la marche de mon enseignement une direction plus étendue et plus philosophique».[9] Schrittweise wollte er zu einem «système assez complet» gelangen. Es war ihm dabei wichtig, stets als Zoologe und nicht als «naturaliste» zu gelten. Vorsichtig habe er sich vorgetastet, so äussert er sich 1838 im Rückblick, beinahe entschuldigend: «je ne visai d’abord qu’à rester lentement progressif, et à me faire petit à petit producteur d’idées dans ce cercle ainsi restreint.»[10] Sein Weitblick ist nicht ‘aufgesetzt’, sondern entwickelt sich aus der konkreten, detaillierten Forschung. Doch am Ende ist sich Geoffroy Saint-Hilaire bewusst, bei einem synthetischen Wissen, bei einer ganzheitlichen Einsicht angelangt zu sein, wobei er immer vorsichtig – mit Verweis auf Leibniz – einer schroff präsentierten Doktrin aus dem Wege geht. Aber er besteht am Schluss darauf, er habe sich nach erfolgter Zusammensicht und Ordnung der Idee «définitivement les satisfactions d’un savoir synthétique» verschafft.[11] Und dieses, sein letztes Buch trägt im Titel das «de Philosophie Naturelle». Natürlich ist der Zoologe längst zum Naturphilosophen geworden.

1838, letzte Worte! Noch einmal will er ein Missverständnis bezüglich seines Berufes ausräumen, da er, der Zoologe und Forscher, nun auch in Deutschland, im Missverständnis zwischen «deux pays limitrophes» als «philosophe de la nature» bezeichnet worden sei.[12]

Geoffroy Saint-Hilaire hat alles im «Avant-Propos» seiner letzten Buchpublikation nochmals dargelegt und zu diesem Zweck weit in die eigene Geschichte – bis zur Teilnahme an der napoleonischen ‘Expedition’ in Ägypten insbesondere – zurückgeblendet. Den ungeliebten Titel des «naturaliste» bezieht er ausgerechnet auf den hier mit Augustinus zusammengebrachten Ausspruch «timeo lectorem unius libri». Alle treten in diesem Plädoyer auf, Buffon und die ihn lobpreisende Kaiserin Russlands, Newton und natürlich Napoleon, der für sich selbst gerne eine Zukunft als «naturaliste et physicien» gesehen hätte[13]; am Ende steht die Frage nach der Möglichkeit einer «physique inconnue, céleste.»[14] Napoleon ist diese letzte Publikation hinterher gewidmet; mit ihm und der ägyptischen Expedition verbindet Geoffroy Saint-Hilaire die Entdeckung jenes unerschöpflichen «Monde des détails»; es bildet den Kern jener ersten grossen wissenschaftlichen Erfahrung. Es war gleichzeitig der Ausgangspunkt aller nachfolgenden «Considérations Synthétiques». Den Boden unter den Füssen hat er nie verloren.

Erinnerungen, Ablenkungen! Er will nur immer, bis ans Ende, alle Missverständnisse von sich weisen, den ‘Vorwurf’ eines «naturaliste» endgültig abstreifen und alle Angriffe abwehren, «aujourd’hui qu’en effet je comprends dans mes spéculations scientifiques toutes les appartenances, actes et manifestations de l’histoire naturelle du firmament.» Somit: «je me trouve obligé de faire face devant d’autres inculpations et de répondre à cette allegation: ‘comment il se fait».[15]

An dieser Stelle, Seite 110, bricht der Text mitten im Satz ab.[16] Keine Lücke im Buchblock (Abb. 4: Étienne Geoffray Saint-Hilaire 1838, Notions, gebundene Bögen); die Paginierung fährt fort: die nächste Seite 111 beginnt mit dreieinhalb gepunkteten Zeilen. Dann eine «Première Annotation» vom Februar 1838, aus der man schliessen soll, dass das Vorausgegangene früher geschrieben und nun unter erschwerten Bedingungen zu Ende geführt werden soll; doch nichts kann er der «fatalité sombre», der sich ankündigenden Blindheit entgegensetzen (Abb. 5: Étienne Geoffray Saint-Hilaire 1838, Notions, S. 110–111).[17] Ärger und Verdruss überkommt ihn («je ressens de ce mépris de ma personne»): «je pensais à me retirer sur la terre étrangère pour y écrire la fin de mes Notions de philosophie; une grave maladie m’en a empêché.»[18] In der Fussnote warnt er, man solle ja nicht glauben, man habe für die Nachwelt gearbeitet, wenn ja doch nur Schimpf und Schande den Lebensabend verdüstern: «des fleurs flêtries durant les derniers automnes.»[19]

Abb. 4: [Étienne] Geoffroy Saint-Hilaire, Notions Synthétiques, Historiques et Physiologiques de Philosophie Naturelle, Paris: Dénain, 1838, Gebundene Bögen

Abb. 5: [Étienne] Geoffroy Saint-Hilaire, Notions Synthétiques, Historiques et Physiologiques de Philosophie Naturelle, Paris: Dénain, 1838, S. 110–111

 

 

Doch noch Hoffnung? Er findet einen «jeune savant» seines Vertrauens, den jungen Mediziner Maxime Vernois, dessen Thesen er nun aufnimmt und befördert. Es bleibt ihm noch sein Sohn Isidore, dem er vertraut und der sein Leben in einer Monographie würdigen wird (Abb. 6: Isidore Geoffroy Saint-Hilaire 1847, Vie d’Étienne Geoffray Saint-Hilaire, Frontispiz u. Titel).[20] Ende!

Abb. 6: Isidore Geoffroy Saint-Hilaire, Vie, Travaux et Doctrine Scientifique d’Étienne Geoffroy Saint-Hilaire, Paris: Bertrand / Strasbourg: Levrault, 1847, Frontispiz und Titel

 
II

Lange zuvor wurde jemand auf Geoffroy Saint-Hilaire aufmerksam: Goethe hatte seine Ansichten mit grossem Einverständnis aufgenommen. In seinen spät wieder aufgenommenen, morphologischen Studien liess er sich ganz besonders von den Vorstellungen des Analogen und Typischen leiten und suchte nach der Einsicht in das Allgemeine, alles Verbindende. Goethes Interesse war in Paris bekannt. Ein direkter Kontakt ergab sich, nachdem Geoffroy Saint-Hilaire sich bei Goethe 1830 für den ersten Bericht zur Debatte mit Cuvier bedankt hatte; man tauschte Schriften aus.[21] Entsprechend prominent tritt Goethe später als Advokat der Position Geoffroy Saint-Hilaires in der Biographie seines Sohnes auf.[22] Cuviers «Vorlesungen über vergleichende Anatomie» waren in Deutschland bekannt und übersetzt.[23] Die Debatte zwischen Cuvier und Geoffroy Saint-Hilaire von 1830 weckte Goethes Aufmerksamkeit; er sah seine ureigensten Interessen berührt, verfolgte das Geschehen in Paris sehr präzis und publizierte noch im selben Jahr den ersten Teil seines Berichts in den «Jahrbüchern für wissenschaftliche Kritik»; im März 1832 folgten zwei weitere Teile und der Schluss. Sie gehören zu Goethes allerletzten Publikationen, die er selbst vor seinem Tod am 22. März wohl kaum noch zu Gesicht bekommen hatte (Abb. 7–10: Goethe 1832, Artikel zu Étienne Geoffroy Saint-Hilaire’s Principes de Philosophie Zoologique).[24] Es ist klar, dass Goethe für Geoffroy Saint-Hilaire Partei nahm; die ‘synthetische’ Methode schien den Deutschen ohnehin mehr zu behagen; «die synthetische Partei findet in uns Deutschen willkommene Aliierte», liess sich Varnhagen von Ense vernehmen.[25] Seine Berichte von 1830 und 1832 betitelte Goethe mit Geoffroys Werktitel «Principes de Philosophie Zoologique». Und wie Geoffroy Saint-Hilaire 1838 die ganze wissenschaftliche Streitfrage mit seiner Lebensgeschichte verbindet, so hält 1832 auch Goethe fest, er wolle «den Gang der Geschichte jener Wissenschaften, denen ich meine Jahre gewidmet, ohne weitere Anmaßung, synchronistisch mit meinem Leben, freilich nur im Allgemeinsten» verbinden.[26] Es schimmert durch, dass beide ein verwandtes Anliegen vertreten, das zur Anerkennung ihrer wissenschaftlichen Leistungen unter ihresgleichen, treibt.[27]

Abb. 7: Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik, 1832, Erster Band, Titel

 

Abb. 8: [J. W. v. Goethe], XXIX. Principes de Philosophie Zoologique. Discutés en Mars 1830. au sein de l’académie royale des sciences par Mr. Geoffroy de Saint-Hilaire, in: Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik, 1832, Erster Band, März, Nr. 51, col. [401–402] 

 

So finden sich in Goethes Bericht lange Verweise auf seine eigene Arbeit, die Erinnerung an Peter Camper insbesondere, den er gleichsam in die Rolle Cuviers zwingt und der ihn an «schmerzliche Empfindungen» erinnert. Umgekehrt beansprucht er für sich mit seiner in der Tat berühmt gewordenen Erforschung der «Zwischen[kiefer]knochen» der «unübersehbaren Weitläufigkeit» und «sinnenbetäubenden Verworrenheit» damaliger vergleichender Anatomie im unmittelbaren Zugriff auf die Natur ein sicheres Fundament gegenübergestellt zu haben.[28]

Abb. 9: J. W. v. Goethe, Schluß zu XXIX. Principes de Philosophie Zoologique […] par Geoffroy de Saint-Hilaire, in: Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik, 1832, Erster Band, März, Nr. 53, col. [417–418]

 

Die Pariser Debatte von 1830 bildet für all dies die willkommene Folie und Goethe kann jenes Ereignis nicht hoch genug einschätzen; er nennt es in einem Atemzug mit den politischen Wirren der Julirevolution in demselben Jahr in Paris. Man überzeuge sich, «dass wir auf die Folge einer so bedeutenden wissenschaftlichen Explosion, selbst nach der grossen politischen, aufmerksam geblieben» seien. Und er will auch gleich die positiven Folgen vermerken, durch die öffentliche Debatte würden «bei unsern Nachbarn» wissenschaftliche Untersuchungen mit mehr Freiheit und auf geistreiche Weise behandelt.[29]

So endet der letzte Teil der wohlwollenden Goethe’schen Berichterstattung. Es gibt jedoch noch anderweitige, bedeutende Differenzen mit Frankreich, die Goethe bei der Gelegenheit offenlegen möchte. Geoffroy sei «zu einer hohen, der Idee gemässen Denkweise gelangt. Doch, «leider bietet ihm seine Sprache auf manchen Punkten nicht den richtigen Ausdruck, und da sein Gegner sich im gleichen Falle befindet, so wird dadurch der Streit unklar und verworren.»[30]

Die Kritik an der französischen Sprache ist grundsätzlich: «Man glaubt in reiner Prosa zu reden und man spricht schon tropisch.» Goethe gibt Beispiele, beginnt beim mechanischen Ausdruck «matériaux», der auch ein organisches Ganzes beschreibt, während das Wort «Materialien» in deutsch nur immer «unzusammenhängende» einzelne Teile meint. Es sind insbesondre Begriffe aus Kunst und Architektur, die derlei Differenzen erkennen lassen. Den eher ‘mechanischen’ Begriff der «composition» hätten die Franzosen in die Kunstlehre eingeführt und Verwirrung gestiftet. Ähnliches gilt für das «technische Wort des Zimmerhandwerks «embranchement» und insbesondere auch der Begriff «plan», der sogleich auf ‘Haus’ und Stadt’ gelenkt werde, wo doch, auch wenn jene «noch so vernünftig angelegt» wären, «immer noch keine Analogie zu einem organischen Wesen darbieten können.» Statt «unité de plan» würde «unité de type» den Sachverhalt besser wiedergeben.[31] Goethe dokumentiert, wie sehr seine morphologischen Vorstellungen an die Sprache gebunden sind.

Goethe stirbt am 22. März 1832. Cuvier starb wenig später am 13. Mai 1832; er hatte es seinerseits abgelehnt, die offene Diskussion weiterzuführen. Die Zeit reichte nicht. Geoffroy Saint-Hilaire überlebt, ist aber, seine Blindheit voraussehend, selbst kaum mehr in der Lage sein Plädoyer zu Ende zu führen. Im Juli 1840 ist er endgültig erblindet; er stirbt am 19. Juni 1844.

Abb. 10: J. W. v. Goethe, Letzte Seite von XXIX. Principes de Philosophie Zoologique […] par Geoffroy de Saint-Hilaire, in: Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik, 1832, Erster Band, März, Nr. 53, col. [421–422]

 

III

Goethe hatte den ersten Teil seines Kommentars zur Pariser Debatte von 1830 mit dem Montaigne entlehnten Motto beschlossen: «Ich lehre nicht, ich erzähle.» Die Berichterstattung stand im Vordergrund. Und so setzt er das Zitat 1832 ebenso an den Anfang des letzten Teils, auch wenn gerade hier die Beurteilung und der Vergleich mit dem eigenen persönlichen Geschick im Vordergrund stand. Aufgefallen ist das Isidore Geoffroy Saint-Hilaire, dem Sohn Étiennes. Er schreibt unter dem Titel «Vie Travaux et Doctrine Scientifique» die Biographie seines Vaters und setzt darüber das Motto:

«Je ne juge pas; je raconte.

Gœthe: Sur la discussion académique entre Cuvier et Geoffroy Saint-Hilaire.»[32]

Isidore ergänzt seinerseits: «Nous en avons été l’historien; nous ne saurions en être le juge: quelques réflexions sur son ensemble, et notre tâche sera terminée.»[33] Er versucht, die Widersprüche zu Cuvier zu klären, die Differenz zu Lamarck zu präzisieren und er muss seinen Vater gegen ganz andere, pauschale Urteile verteidigen. Es geht ihm darum, Étienne Geoffroy Saint-Hilaires Eintreten zugunsten einer «théorie de la variabilité des types» gegen Cuviers Insistieren auf einer «immutabilité des espèces» zu betonen.[34] Die Natur zeigt Veränderung; und auch Cuvier konnte Verwandtschaften zwischen Vertretern unterschiedlicher Arten nicht übersehen. Schliesslich ging es doch beiden um Hypothesen, um eine Hypothese der «simplicité» bei Cuvier und um eine Hypothese der «complication» bei Geoffroy Saint-Hilaire.[35] Der Kontrast der Ansichten verfestigt sich im Widerstreit von ‘Analyse’ und ‘Synthese’. Und schliesslich verweist Isidore bezogen auf die von seinem Vater bezweifelten Aussichten auf ein Nachleben seiner wissenschaftlichen Überzeugungen auf Kepler; seine «Harmonique du monde» seien vornehmlich für «lecteurs posthumes» geschrieben worden.[36]

Isidore hatte bemerkt, dass Anerkennung und Interesse für seinen Vater bald wuchs. Die Dichotomie von Analyse und Synthese fand als probates Mittel selbst in der Sprachwissenschaft Aufnahme. Es ist der Fall von J. Clément und seinem 1843 erschienenen «Essai sur la Science du Langage», in dem der Autor auf die mit den fünf Sinnen verbundene und als «expresssion sensible de la pensée» aufgefasste Sprache eingeht und nach diesen beiden Aspekten unterscheidet: «d’une manière vague, générale et sans précision», auf synthetische Weise, und analytisch «non plus vague et générale, mais nette et précise» und «en détail».[37] Isidore Geoffroy Saint-Hilaire, der als Mediziner und Zoologe die Forschungen seines Vaters fortsetzte, in besonderer Weise den Anomalien in körperlichen Organismen nachging und mittlerweile selbst die Ämter in der Akademie und im Muséum national d’histoire naturelle bekleidete, kannte dieses Buch, das Clément ihm zugesandt hatte, und ging darauf ein. Im eigenen Exemplar Cléments befinden sich Briefe eingeklebt, darunter derjenige von Isidore Geoffroy Saint-Hilaire, der nebst dem Dank einige Ratschläge für eine erfolgreiche Karriere enthält, zuvorderst den Rat, die deutsche Sprache zu erlernen (Abb. 11–13: Clément 1843, Essai, Titel; Isidore Geoffray Saint-Hilaire 1843, Brief): «Le premier [avis] que je vous donnerai, est d’apprendre la langue allemande. Cette belle langue est indispensable dans vos études de grammaire générale: elle a un caractère, des formes et des règles dont la comparaison avec le caractère, les formes et les règles de notre langue et des langues anciennes sera pour vous du plus grand intérêt. Je suis convaincu, du reste, que malgré ce qu’on dit des difficultés de la langue allemande, et malgré ce qu’il peut y avoir de vrai dans ce qu’on dit d’elle, que quelques mois d’étude sont suffisant, non sans doute pour lire les poètes et parler, mais pour lire les auteurs faciles et pour comprendre les règles de la langue; ce qui est le principal pour vous.» Es folgen Ratschläge zu einem umsichtigen Gebrauch der Vergleiche und zur Zurückhaltung, «de ne point pousser trop loin les analyses.»[38]

Abb. 11: J. Clément, Essai sur la Science du Langage, Paris: Hachette, 1843, Titel

 

Abb. 12–13: Isidore Geoffroy Saint-Hilaire, Brief an J. Clément, S. [1 und 4], in: Clément 1843, nach Titel eingeklebt

 

Die Ratschläge zu einer bedachten Anwendung von ‘Methoden’ überraschen kaum: doch der eindringliche Ratschlag, die deutsche Sprache zu erlernen ist doch sehr auffällig und lässt den Blick – im Nachgang zu Goethes Bemerkungen von 1832 – auf diese stets sehr virulente Frage im wissenschaftlichen Austausch von Paris und Deutschland richten. Sie ist eng mit dem Selbstwertgefühl der damals führenden beiden Kulturnationen verbunden.

Der von Cuvier verfasste, an den Kaiser gerichtete Bericht zur Entwicklung und zum Fortschritt der Naturwissenschaften lässt dies 1810 deutlich erkennen. Der Autor spricht hier von einer «disposition», die er als «méthode naturelle» begreift, mit einer «connoissance très-détaillée de toutes les parties des êtres» und mit den «systèmes de pure nomenclature» nach dem Modell Linnés verbindet (Abb. 14: Cuvier 1810, Rapport Historique).[39] Doch das Verdienst, dies umgesetzt und verbindlich gemacht zu haben, gebührt Frankreich: «mais c’est à la France, et surt-tout à l’époque actuelle, qu’il étoit réservé d’en faire une application générale à tout le règne végétal.»[40] Cuvier bezieht sich auf die «Genera plantarum» von Bernard de Jussieu und zitiert bezogen auf Chemie Lavoisiers.

Abb. 14: Cuvier, Rapport Historique sur le Progrès des Sciences Naturelles depuis 1789, et sur leur état actuel, Présenté à Sa Majesté l’Empereur et Roi, en son Conseil d’état, le 6 Février 1808, Paris: Imprimerie Impériale, 1810

 

Man erfährt hier indirekt mit welcher Autorität Cuvier später gegen É. Geoffroy Saint-Hilaire auftritt, dem es nichts nützt, 1838 seinerseits auf die frühe Beziehung zu Napoléon hinzuweisen. Die Grundlegung wissenschaftlicher Methoden ist Staatsdoktrin. Und die Vorgeschichte – und die Verdienste Lavoisiers, dem die vorausgegangene Autorität der Revolution den Kopf abgeschlagen hat – ist bemerkenswert.

Noch vor der Revolution hatten De Morveau, Lavoisier, Bertholet und De Fourcroy ihre «Méthode de Nomenclature» vorgelegt und der Akademie am 2. Mai 1787 präsentiert. Dabei ging es nicht bloss um die Darlegung neuer Methoden, sondern auch grundsätzlich um den Einsatz der Sprache (Abb. 15–16: Morveau/Lavoisier/Bertholet/de Fourcroy 1787, Méthode de Nomenclature chimique, Titel und S. 6):

«Les langues n’ont pas seulement pour objet, come on le croit communément, d’exprimer par des signes, des idées & des images: ce sont, de plus, de véritables méthodes analytiques, à l’aide desquelles nous procédons du connu à l’inconnu, & jusqu’à un certain point à la manière des mathématiciens.»[41] Letzteres, die Nähe zur Mathematik, wird weiter ausgeführt. Doch der erste Satz reicht aus, um zu dokumentieren, wie sich die Naturwissenschaften die Sprache aneignen und ihren – analytischen – Bedürfnissen anpassen und unterordnen. Die Sprache ist der üblichen – vagen – Auffassung als Konvention und Vermittlungsform entzogen, diszipliniert und mathematisiert und den spezifischen Zwecken der Erkenntnisbeschaffung zugeordnet worden. Es geht jetzt um «véritables méthodes» und den verlässlichen und direktesten Gang vom «inconnu» zum «connu»! Bei Cuvier wird dies zur Doktrin.

Abb. 15: de Morveau/Lavoisier/Bertholet/de Fourcroy, Méthode de Nomenclature Chimique, Paris: Cuchet, 1787, Titel

Abb. 16: de Morveau/Lavoisier/ Bertholet/ de Fourcroy, Méthode de Nomenclature Chimique, Paris: Cuchet, 1787, S. 6

 

Diese exklusive Inanspruchnahme scheint Lavoisier, der noch von Condillacs Logik ausging, nicht von Anfang an angestrebt zu haben. In seinem grundlegenden «Traité Élementaire de Chimie» formuliert er den Zusammenhang Sprache und «nomenclature» grosszügiger (Abb. 17–18: Lavoisier 1793, Traité elementaire, Titel und S. vj–vij):

«L’impossibilité d’isoler la Nomenclature de la science & la science de la Nomenclature, tient à ce que toute science physique est nécessairement formée de trois choses: la série des faits qui constitutent la science; les idées qui les rappelent; les mots qui les expriment. Le mot doit faire naître l’idée; l’idée doit peindre le fait: ce sont trois empreintes d’un même cachet; & comme ce sont les mots qui conservent les idées & qui les transmettent, il en résulte qu’on ne peut perfectionner le langage sans perfectionner la science, ni la science sans le langage, & que quelques certains que fussent les faits, quelques justes que fussent les idées qu’ils auroient fait naître, ils ne transmettroient encore que des impressions fausses, si nous n’avions pas des expresssions exactes pour les rendre.»[42]

Lavoisier geht also von der Sprache und ihrer üblichen Bindung an Worte und Ideen aus, sucht gleichwohl den Ausschluss von Irrtümern und strebt die Herstellung exakter Begriffe an.

Abb. 17: M. Lavoisier, Traité Élémentaire de Chimie, présenté dans un ordre nouveau et d’après les découvertes modernes, Seconde Édition, Tome Premier, Paris: Cuchet, 1793, Titel

Abb. 18: M. Lavoisier, Traité Élémentaire de Chimie, présenté dans un ordre nouveau et d’après les découvertes modernes, Seconde Édition, Tome Premier, Paris: Cuchet, 1793, S. vj–vij

 

In Deutschland drängten andere Fragen in den Vordergrund. Es interessierten Fragen der Orthographie und Friedrich Schlegel rückte 1812 die Frage «Ueber die unmusikalische Beschaffenheit der deutschen Sprache» in den zweiten Band seines einer breiten «Philosophie des Lebens» zugedachten «Deutschen Museum» ein, um sie zu beantworten.[43] Allein, nie war man sich so nahe wie gerade damals mit der Präsenz Alexander von Humboldts in Paris und dem Zusammengehen von August Wilhelm von Schlegel mit Mme de Staël. Gerade hier zeigte sich indes die latente Differenz zwischen den Kulturen und ihren Sprachen.

Otto Heinrich von Loeben hat dem seine ganze Aufmerksamkeit geschenkt und, ganz anders, die poetische Literatur ins Visier genommen. Auf dem Titel seines Buches «Deutsche Worte über die Ansichten der Frau v. Staël von unserer poetischen Litteratur» stand 1814 das Motto von August Wilhelm von Schlegel (Abb. 19: von Loeben 1814, Deutsche Worte, Titel): «Wahrheit ist die heiligste der Musen.»[44] Andere Welten! Von Loeben unterstellte Mme de Staël, der «unsichtbaren Gegenwart eines französischen Geschmackstribunals» verpflichtet zu sein. Indes, an Stelle von «Conversation» (für die Franzosen) steht «Contemplation» (für die Deutschen).[45] Mme de Staël hält dagegen: «… on trouve en France un beaucoup plus grand nombre de gens d’esprit qu’en Allemagne» und «le public y est beaucoup plus imposant».[46] Aber natürlich bedeutet ‘esprit’ in französisch etwas ganz anderes als ‘Geist’ in Deutschland. In Deutschland sind es wenige und im – deutschen – Genie läge «ein natürliches Streben sich selbst zu genügen».[47] Ein verbindlicher «goût fixe» liesse sich in Deutschland nicht ausmachen.[48] Und nochmals im Vergleich zu Frankreich fragt Mme de Staël: «Quelle nation possède autant d’écrivains de génie que la France!»[49]

Gegen all das stellt van Loeben ein Zitat von Friedrich Schlegel

«Die so leicht befriedigt der kleinen Vollendung sich freuen,

Deutsche wiegen sie auf, durch die vollendende Kraft.»[50]

 

Abb. 19: [Otto Heinrich von Loeben], Deutsche Worte über die Ansichten der Frau v. Staël von unserer poetischen Litteratur in ihrem Werk über Deutschland, Heidelberg: Mohr und Zimmer, 1814, Titel

 

Je genauer man hinsieht, umso deutlicher treten die Kontraste in aller Deutlichkeit hervor. Die erreichte klare wissenschaftliche Systematik gegründet auf der Vorstellung einer «méthode naturelle» und einer bereinigten Nomenklatur in Paris; in Deutschland keinerlei Verbindlichkeit weder in der Poesie noch in der Wissenschaft. Man versteht jetzt vielleicht besser die späteren Bemühungen Goethes auszugleichen und begreift auch insbesondere, weshalb er am Schluss gerade auch auf die Mängel im französischen Umgang mit Sprache und Begriffen zu sprechen kommt. Und doch präsentiert sich schliesslich ein wundervolles Beispiel der Begegnung zweier vielfach miteinander verflochtenen Kulturen.

Auf den Sprachenstreit bezogen schreibt Goethe 1832 im letzten Teil seiner Diskussion zu Geoffroy de Saint-Hilaire:

«Wir wollen suchen, diesen Umstand bescheidentlich aufzuklären. Denn wir möchten diese Gelegenheit nicht versäumen, bemerklich zu machen, wie ein bedenklicher Wortgebrauch bei Französischen Vorträgen, ja bei Streitigkeiten vortrefflicher Männer, zu bedeutenden Irrungen Veranlassung giebt. Man glaubt in reiner Prosa zu reden und man spricht schon tropisch; den Tropen wendet einer anders an, als der andere, führt ihn in verwandtem Sinne weiter und so wird der Streit unendlich und das Räthsel unauflöslich.»[51]

Goethe glaubt an den Nutzen solcher Intervention: «Jetzt aber, damit das Vorstehende nicht ganz veralte, wollen wir nur soviel erklären, dass wir glauben bemerkt zu haben: es werden die wissenschaftlichen Untersuchungen in diesem Felde zeither bei unseren Nachbarn mit mehr Freiheit und auf eine geistreichere Weise behandelt.» Auch der allerletzte Satz steht für Goethes eigene Sichtweise und Argumente: «Darf man nun voraussetzen, dass die genetische Denkweise, deren sich der Deutsche nun einmal nicht entschlagen kann, mehr Kredit gewinne; so können wir uns gewiss von jener Seite einer fortgesetzten theilnehmenden Mitarbeit erfreuen.»[52]

Goethes letzte – gedruckte – Worte! Insofern klang Isidores Empfehlung der deutschen Sprache an seinen jüngeren Kollegen Clément versöhnlicher und offener. Es wird bei den unterschiedlichen Sichtweisen bleiben und das macht den ganzen kulturellen Reichtum aus, auf den auch die ‘strenge Wissenschaft’ nicht zu verzichten braucht.

 

WOe, 20.01.2025

 
Anmerkungen

* Redigierte Version, in: Scholion 17 / 2025 (in Redaktion, nach Druck online E-Periodica)

[1] Cf. [Étienne] Geoffroy Saint-Hilaire, Notions Synthétiques, Historiques et Physiologiques de Philosophie Naturelle, Paris: Dénain, 1838. – Das Buch scheint selten zu sein; eine Kollationierung, bei der die hier beobachtete und diskutierte Bruchstelle (S.110/111) bemerkt worden wäre, konnte der Schreibende nicht auffinden. Unser Exemplar ist in der Originalbroschur, mit einem lediglich ‘aufgemalten’ Buchrücken erhalten und war bis dato unaufgeschnitten: gebundenes identisches Exemplar in der Bibliothèque national de France mit selbigem Übergang zwischen S. 110/111: ark:/12148/bpt6k9601020b (10.2.2025).

[2] [Étienne] Geoffroy-Saint-Hilaire, Funérailles de M. Le Baron Cuvier. Discours […] (Le mercredi 16 mai 1832), Paris: Institut de France, Académie Royale des Sciences / Firmin Didot, [1832].

[3] So schon, noch deutlich in der Tradition von Linné und Buffon: G. Cuvier, Tableau Élémentaire de l’Histoire Naturelle des Animaux, Paris: Baudoin, An 6 [1798], S. 13.

[4] Gemäss der Darstellung des Sohns Isidores und Biographs von Étienne Geoffroy Saint-Hilaire befand sich dieser vornehmlich in der Rolle des Verteidigers und Cuvier dirigierte die Diskussion: «la direction [du débat] était surtout dans les mains de Cuvier»: cf. Isidore Geoffroy Saint-Hilaire, Vie, Travaux et Doctrine Scientifique d’Étienne Geoffroy Saint-Hilaire, Paris: Bertrand / Strasbourg: Levrault, 1847, S. 381–382.

[5] Cf. [Étienne] Geoffroy Saint-Hilaire, Philosophie Anatomique. Des Organes respiratoires sous le rapport de la détermination et de l’idendité de leurs pièces osseuses, Paris: Méquignon-Marvis, 1818, S. xviii.

[6] Id., S. xxxi.

[7] Id., S. xx.

[8] Id., S. vii.

[9] Id., S. viii.

[10] Cf. Étienne Geoffroy Saint-Hilaire 1838, Notions Synthétiques (Anm. 1), S. 108.

[11] Id., S. 108

[12] Id., S. 110.

[13] Id., S. xli. (Introduction).

[14] Id., Avant-Propos, o. S.

[15] Id., S. 110.

[16] Der Umstand eines solchen abrupten Endes eines Textes, der doch gerade zum entscheidenden, wesentlichen Schluss gelangen sollte, den Leser nun aber mit ungelösten Fragen zurücklässt, findet bei Friedrich Schlegel eine frappante Entsprechung: cf. u. a. Werner Oechslin, «Ineinander …», in: Christoph Lanthemann/Roland Lutz/Werner Oechslin/Valentina Sebastiani, Was ist eine Forschungsbibliothek, Basel: Colmena, 2021, S. 19–52, hier S. 25–28 und S. 52.

[17] Étienne Geoffroy Saint-Hilaire 1838, Notions Synthétiques (Anm. 1), S. 111.

[18] Id., S. 118–119.

[19] Id., Anm. (1) S. 118.

[20] Id., S. 137–138.

[21] Cf. Ilse Jahn, Geoffroy Saint-Hilaire, in: Hans-Dietrich Dahnke/Regine Otto (Hg.), Goethe-Handbuch, Band 4/1, Stuttgart/Weimar: Metzler, [1998] 2004, S. 548–550.

[22] Cf. Isidore Geoffroy Saint-Hilaire 1847, Vie d’Étienne (Anm. 4), S. 371–372 und S. 380–385.

[23] Cf. G. Cüvier, Vorlesungen über vergleichende Anatomie, Erster Theil, Uebersetzt und mit Anmerkungen und Zusätzen vermehrt von L. H. Froriep und von I. F. Meckel, Leipzig: Kummer, 1809.

[24] Eine gute Übersicht und detaillierte Darstellung im Kommentar von: Hans J. Becker, in: Goethe (Münchner Ausgabe), Band 18.2, Letzte Jahre 1827–1832, München: Hanser, 1996, S. 1279–1284.

[25] Hier zitiert nach Becker 1996, Goethe (Anm. 24), S. 1281.

[26] Cf. [J. W. v. Goethe] XXIX. Principes de Philosophie Zoologique. Discutés en Mars 1830. au sein de l’académie royale des sciences par Mr. Geoffroy de Saint-Hilaire, in: Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik, März 1832, Nr. 51, col. [401].

[27] Cf. Dazu auch: Becker 1996, Goethe (Anm. 24), S.1203.

[28] Cf. Goethe 1832, Principes (Anm. 26), col. 408.

[29] Cf. Goethe 1832, Principes (Anm. 26), col. 422.

[30] Id., col. [417].

[31] Id., col. [418]–419.

[32] Cf. Isidore Geoffroy Saint-Hilaire 1847, Vie d’Étienne (Anm. 4), Titelblatt.

[33] Id., S. 359.

[34] Id., S. 352–353.

[35] Id., S. 357.

[36] Id., S. 383–384.

[37] Cf. J. Clément, Essai sur la Science du Langage, Paris: Hachette, 1843, S. 32–33 und «Tableau des différentes espèces de Langages», S. 34.

[38] Dieses aus dem Besitz des Autors stammende Exemplar mit dem Brief von Isidore Geoffroy Saint-Hilaire befindet sich in der Bibliothek Werner Oechslin.

[39] Cf. Cuvier, Rapport Historique sur le Progrès des Sciences Naturelles depuis 1789, et sur leur état actuel, Présenté à Sa Majesté l’Empereur et Roi, en son Conseil d’état, le 6 Février 1808, Paris: Imprimerie Impériale, 1810, S. 304.

[40] Id., S. 305.

[41] Cf. de Morveau/Lavoisier/Bertholet/de Fourcroy, Méthode de Nomenclature Chimique, Paris: Cuchet, 1787, S. 6.

[42] M. Lavoisier, Traité Élémentaire de Chimie, présenté dans un ordre nouveau et d’après les découvertes modernes, Seconde Édition, Tome Premier, Paris: Cuchet, 1793, S. vj– vij.

[43] Cf. J., Ueber die unmusikalische Beschaffenheit der deutschen Sprache. An den Herausgeber, in: Deutsches Museum, Zweyter Band, Wien: Camesinasche Buchhandlung, 1812, S. 533–545.

[44] Cf. [Otto Heinrich von Loeben] Deutsche Worte über die Ansichten der Frau v. Staël von unserer poetischen Litteratur in ihrem Werk über Deutschland, Heidelberg: Mohr und Zimmer, 1814.

[45] Id., S. 14.

[46] Id., S. 14–15.

[47] Id., S. 15.

[48] Id., S. 12.

[49] Id., S. 17.

[50] Id., S. 14.

[51] Siehe oben; Goethe 1832, Principes (Anm. 26), col. [417].

[52] Id., col. 422.

 

Abbildungen

Abb. 1: [Étienne] Geoffroy Saint-Hilaire, Notions Synthétiques, Historiques et Physiologiques de Philosophie Naturelle, Paris: Dénain, 1838, Titel

Abb. 2: G. Cuvier, Tableau Élémentaire de l’Histoire Naturelle des Animaux, Paris: Baudoin, An 6 [1798], Titel

Abb. 3: [Étienne] Geoffroy Saint-Hilaire, Philosophie Anatomique. Des Organes respiratoires sous le rapport de la détermination et de l’idendité de leurs pièces osseuses, Paris: Méquignon-Marvis, 1818, Titel

Abb. 4: [Étienne] Geoffroy Saint-Hilaire, Notions Synthétiques, Historiques et Physiologiques de Philosophie Naturelle, Paris: Dénain, 1838, Gebundene Bögen

Abb. 5: [Étienne] Geoffroy Saint-Hilaire, Notions Synthétiques, Historiques et Physiologiques de Philosophie Naturelle, Paris: Dénain, 1838, S. 110–111

Abb. 6: Isidore Geoffroy Saint-Hilaire, Vie, Travaux et Doctrine Scientifique d’Étienne Geoffroy Saint-Hilaire, Paris: Bertrand / Strasbourg: Levrault, 1847, Frontispiz und Titel

Abb. 7: Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik, 1832, Erster Band, Titel

Abb. 8: [J. W. v. Goethe], XXIX. Principes de Philosophie Zoologique. Discutés en Mars 1830. au sein de l’académie royale des sciences par Mr. Geoffroy de Saint-Hilaire, in: Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik, 1832, Erster Band, März, Nr. 51, col. [401–402] 

Abb. 9: J. W. v. Goethe, Schluß zu XXIX. Principes de Philosophie Zoologique […] par Geoffroy de Saint-Hilaire, in: Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik, 1832, Erster Band, März, Nr. 53, col. [417–418]

Abb. 10: J. W. v. Goethe, Letzte Seite von XXIX. Principes de Philosophie Zoologique […] par Geoffroy de Saint-Hilaire, in: Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik, 1832, Erster Band, März, Nr. 53, col. [421–422]

Abb. 11: J. Clément, Essai sur la Science du Langage, Paris: Hachette, 1843, Titel

Abb. 12–13: Isidore Geoffroy Saint-Hilaire, Brief an J. Clément, S. [1 und 4], in: Clément 1843, nach Titel eingeklebt

Abb. 14: Cuvier, Rapport Historique sur le Progrès des Sciences Naturelles depuis 1789, et sur leur état actuel, Présenté à Sa Majesté l’Empereur et Roi, en son Conseil d’état, le 6 Février 1808, Paris: Imprimerie Impériale, 1810

Abb. 15: de Morveau/Lavoisier/Bertholet/de Fourcroy, Méthode de Nomenclature Chimique, Paris: Cuchet, 1787, Titel

Abb. 16: de Morveau/Lavoisier/ Bertholet/ de Fourcroy, Méthode de Nomenclature Chimique, Paris: Cuchet, 1787, S. 6

Abb. 17: M. Lavoisier, Traité Élémentaire de Chimie, présenté dans un ordre nouveau et d’après les découvertes modernes, Seconde Édition, Tome Premier, Paris: Cuchet, 1793, Titel

Abb. 18: M. Lavoisier, Traité Élémentaire de Chimie, présenté dans un ordre nouveau et d’après les découvertes modernes, Seconde Édition, Tome Premier, Paris: Cuchet, 1793, S. vj–vij

Abb. 19: [Otto Heinrich von Loeben], Deutsche Worte über die Ansichten der Frau v. Staël von unserer poetischen Litteratur in ihrem Werk über Deutschland, Heidelberg: Mohr und Zimmer, 1814, Titel

 

18.02.2025


Abb. 1: Rime del Brocardo et d’altri authori, [Venedig: F. Amadi 1538], Titelseite Antonio Brocardo’s (–1531) Gedichtsammlung und Abb. 2: letzte Seite mit handschriftlichen Ergänzungen fehlender Stellen durch den Maler Giovanpietro Cavazzoni Zanotti (1674–1765), 1710

Die Sorge um die Integrität des Buches*

Das Kopieren von Büchern ist nach Gutenberg nicht überflüssig geworden. Wenn ein Buch nicht unmittelbar greifbar, sehr selten oder mit Mängeln behaftet war, hat man diese alte Möglichkeit der Handschrift genutzt, auch mal ganze Buchteile kopiert, um Fehlendes zu ersetzen.

Die erstmals postum 1538 erschienenen «Rime» von Antonio Brocardo sind ein durchaus seltener und geschätzter Sammelband von Poesie – auch anderer Autoren (Abb. 1–2). Brocardo, der bei Pietro Bembo in die Schule ging, sich dann aber gegen seinen berühmten Lehrer wandte, zog dadurch viel Feindschaft auf sich. Dies vergrösserte wohl seine Bekanntheit, verursachte jedoch – gemäss einigen Aussagen – auch seinen frühen Tod 1531. Nun ziert sein Name den Sammelband verschiedener zeitgenössischer Dichtungen. Wie hoch derlei Veröffentlichungen im Ansehen standen, lässt sich am ersten Satz erkennen, den der Herausgeber Fausto Amadi seiner Widmung voransetzte:

 

«Conoscendo quanta forza habbia a mover gli affetti humani la Poesia …».

 

Er nennt die Poesia «un dono, una gratia, & (come essi dicono) un furore celeste & divino». Ein göttliches Geschenk also für den, der diese Kunst beherrscht.

 

Das ist auch der Grund, weshalb solche ‘Werklein’ immer geschätzt wurden und, weil rar, auch stets gesucht waren, selbst wenn sie Mängel hatten. Unserem Exemplar fehlen die letzten sechs originalen Seiten. Doch der spätere Besitzer, der es in einen neuen Umschlag legte und sich um das Büchlein liebevoll kümmerte, ergänzte in kleiner, sorgfältiger Schrift die fehlenden Teile. Er hat seine Arbeit signiert. Es handelt sich dabei um keinen Geringeren als den ersten, lang amtierenden Sekretär der Accademia Clementina in Bologna, Giampietro Zanotti. Gründungsmitglied der Akademie und selbst Maler, war er mitverantwortlich für die Erneuerung der Bologneser Malerei in der grossen Tradition der Carracci und veröffentlichte sehr viel später, 1756, die «Avvertimenti di Giampietro Cavazzoni Zanotti Per lo incamminamento di un Giovane alla Pittura» (Abb. 3).

In Brocardos Gedichtsammlung findet sich am Ende der letzten, Kardinal Ippolito de’ Medici gewidmeten Verse also die Unterschrift:

«Di me Giovampietro Cavazzoni Zanotti

Pittore

1710.»

 

WOe, 17.12.2024

 

Abb. 3: Avvertimenti di Giampietro Cavazzoni Zanotti Per lo incamminamento di un Giovane alla Pittura, Bologna: Lelio dalla Volpe, 1756

 

* Redigierte Version, in: Scholion 17/2025 (in Redaktion, nach Druck online E-Periodica)

17.12.2024


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